Henrike Naumann, Ruinenwert (2019) Haus der Kunst München, Photo: Ulrich Gebert.

Illiberal Lives (Illiberale Leben)

Eröffnung: 21.04.2023, 19 Uhr

Mit Pauline Curnier Jardin, Johanna Hedva, Ho Rui An, Blaise Kirschner, Jota Mombaça, Henrike Naumann, Melika Ngombe Kolongo, Bassem Saad, Mikołaj Sobczak und Jordan Strafer und einer Neuhängung von Arbeiten der Sammlungen im Ludwig Forum Aachen ausgewählt durch die Künstler*innen von Vincent Desiderio, Jann Haworth, Domenico Gnoli, Renato Guttuso, Jörg Immendorff, Magdalena Jetelová, Lew Kerbel, Konrad Klapheck, Jeff Koons, Thomas Lanigan-Schmidt, Lee Lozano, Wolfgang Mattheuer, Klaus Paier, Tõnis Vint und Andy Warhol

Der Zerfall der liberal-kapitalistischen Nachkriegsordnung, die nach 1989 durchgesetzt schien, lässt auch die Kunst dieser Gesellschaft nicht unberührt. Illiberal Lives, die aktuelle Ausstellung im Ludwig Forum Aachen setzt genau hier an. Sie fragt, wie mit dem Aufbrechen des liberalen Fortschrittsversprechens unweigerlich der unfreie, illiberale Kern moderner Freiheiten zu Tage tritt, und auch die liberale Fiktion von der Kunst als Ausdrucksraum bürgerlicher Freiheit immer mehr unter Druck gerät. Dort, wo die Kunst nicht nur Besitzstände verteidigt, oder sich der Beschwörung nationaler Gemeinschaften dienstbar macht, zeigt sie sich heute zunehmend als praktischer Austragungsort sozialer Widersprüche und Ausschlüsse. Die Arbeiten von Pauline Curnier Jardin, Johanna Hedva, Ho Rui An, Blaise Kirschner, Jota Mombaça, Henrike Naumann, Melika Ngombe Kolongo, Bassem Saad, Mikołaj Sobczak und Jordan Strafer brechen mit den Beschränkungen und Gewalten der liberalen Freiheiten und lassen stattdessen künstlerische Formen eines illiberalen Lebens an ihre Stelle treten. Die Neuhängungen von durch die Künstler*innen ausgewählten Arbeiten der Sammlungen im Ludwig Forum Aachen, die Teil von Illiberal Lives sind, fügen der Ausstellung wesentliche Zuspitzungen von Vergangenheiten und Gegenwarten hinzu. In ihren Auseinandersetzungen mit Arbeiten von beispielsweise Renato Guttuso, Konrad Klapheck oder Jeff Koons geraten seltener gezeigte Arbeiten wie die von Vincent Desiderio oder Magdalena Jetelová in den Blick. Die eingeladenen Künstler*innen reperspektivieren hierbei immer auch die postfaschistische Geschichte einer Institution, deren Sammlungen unlösbar verbunden sind mit der Rhetorik der Blockkonfrontation zwischen Ost und West in der Nachkriegszeit und dem liberalen Narrativ von „freier“ und „unfreier“ Kunst.

Die Präsentation von fünf Installationen von Henrike Naumann in der weitläufigen Halle des Museums, in die Werke wie Magdalena Jetelovás Skulptur Der Setzung andere Seite oder eine Büste Peter Ludwigs von Lew Kerbel eingebunden sind, bildet das Zentrum der Ausstellung: Naumanns Installationen, in denen Möbelensembles, Accessoires und Designgegenstände skulptural werden, machen mit ihren hierin laufenden Video- und Soundarbeiten die Verortung von Illiberal Lives im postfaschistischen Deutschland unentrinnbar. 

Naumanns Einbindung zentraler Werke des Ludwig Forums in ihre künstlerische Aufstellung deutscher politischer Gewalt nach 1989 stellen die weiteren eingeladenen Künstler*innen der Ausstellung ästhetische Formulierungen vergemeinschaftender Perspektiven gegenüber. Sie leiten eine Wahrnehmung an, in der sich künstlerisches Handeln von nationalstaatlichen Vorstellungen des Politischen ablöst. So verbinden sich beispielsweise Mikołaj Sobczaks Darstellungen von Protagonist*innen LGBTQI+ basierter Organisierung, von queeren, gegenkulturellen Milieus und Widerstandsbewegungen aus unterschiedlichsten Epochen mit den revolutionären Gesten des Aachener Wandmalers Klaus Paier, dem kommunisitischen Realismus von Renato Guttusos Maggio 1968 – Giornale Murale, dem aus Seidenstrümpfen zusammengenähten Surfer, eine der seltenen lebensgroßen ikonischen Figurinen von Jann Haworth, und mit Iconostasis, einer aus Cellophan und bemalter Silberfolie zusammengesetzten Ikonenwand des Künstlers Thomas Lanigan-Schmidt, einem vielfach dokumentierten Beteiligten der Stonewall Riots in New York 1969.

Die Künstler*innen in Illiberal Lives zielen auf vergemeinschaftende Horizonte, auf kollektive Wahrnehmungsformen und auf politische Spontaneitäten, die heute aus den Rissen der zerfallenden Gegenwart hervorbrechen. Denn wenn die Hierarchisierung von Kunst-Werk über künstlerischer „Lebens-Arbeit“ (Lu Märten) erst einmal aufgebrochen ist, verschiebt sich der Blick auch auf die moderne Kunstgeschichte, in die sich außerkünstlerische historische Kontinuitäten einschreiben. Eingebaut in Naumanns Arbeit Das Reich verschwindet die Frage, ob Immendorffs tonnenschwere Bronzeskulptur Naht (Brandenburger Tor – Weltfrage) als Werk formal gelungen sei oder nicht: seine Monumentalität, Materialwahl und überhöhte Symbolik werden zum Dokument einer für ihre Zeit symptomatischen künstlerisch-nationalen Selbstinszenierung, eines bundesrepublikanischen Formalismus. In Illiberal Lives wird daher die Institution der Kunst nicht als authentische Errungenschaft der liberalen Moderne verstanden, sondern vielmehr als historische Beschränkungsform – als Mehr-Wert abschöpfende Einhegung und Absonderung von aus Formen gelebter Gemeinschaft hervorgehender künstlerischer Lebens-Arbeit.

Kuratiert von Eva Birkenstock, Anselm Franke, Holger Otten und Kerstin Stakemeier. Es handelt sich um eine Fortsetzung der Ausstellung Illiberal Arts, die 2021 von Anselm Franke und Kerstin Stakemeier am Haus der Kulturen der Welt, Berlin, kuratiert wurde. Die Ausstellung wird von der Produktion einer Publikation begleitet.

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